Acht Bergbegeisterte des DAV Überlingen machten sich unter der Leitung von Reinhard Stracke an Fronleichnam, Donnerstag, 20.6.2019, von Überlingen bzw. Meersburg auf in Richtung Engadin. Über die österreichische, dann die Schweizer Rheintalautobahn ging es im Vereinsbus schließlich in Richtung Osten nach Davos, dann über den Flüelapass nach Zernez.
Auf der Passhöhe beeindruckten uns noch meterhohe Schneewände am Rande des Parkplatzes und zahlreiche Schneefelder und zeugen noch von dem schneereichen Winter. Kein idealer Platz also, um in der morgendlichen Kälte länger Pause zu machen – und keine guten Bedingungen für die angedachten Passüberquerungen.
In Zernez fahren wir ein paar Kilometer Inn-aufwärts nach S’chanf, von dort aufwärts zum Parkplatz Prasüras. Unsere Tour beginnt nun mit einem Aufstieg zur Privathütte Varusch 1771m, wo das Einchecken eine echte Schlüsselfrage darstellte.
Danach eine Almwanderung durch das Val Trupchun, hoch bis auf ca. 2200m oberhalb der nicht mehr bewirtschafteten gleichnamigen Alpe. Weil es unterwegs zu donnern und zu tröpfeln beginnt, teilte sich zuvor unsere Gruppe – die Hälfte stieg wieder ab und wird später das Seitental zur Forcla Val Sassa erkunden.
Das Val Trupchun ist geprägt durch einen tosenden Bach und – vor allem am Gegenhang zu unserem Pfad – durch Muren- und Lawinenschneisen. Teilweise unterspült der Bach Lawinenreste, die noch mehrere Meter hoch sind und deren Enden sich in Eisblöcke und Seracs aufspalten. Das östliche Talende besteht aus einem steilen, aber begehbaren Dach bzw. hohen Sattel aus Fels und Schutt (Forcla Trupchun, ca. 2800 m), jedoch gibt es auf der anderen, italienischen Seite laut Karte keinen begehbaren Weg ins Tal.
Wir befinden uns hier im Schweizer Nationalpark, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingerichtet wurde. Durch mehr als deutliche Hinweisschilder werden wir daran erinnert, dass außer Luftholen und Wasserschöpfen so gut wie alles verboten und alles, was da kreucht und fleucht, streng geschützt ist. Dafür wird man reich entschädigt durch:
Fauna: Kurz unterhalb unseres Umkehrpunktes treffen wir eine große Gruppe Schüler und einige Parkranger (beide nicht geschützt), die uns durch ihr Fernrohr blinzeln lassen. Die braunen Flecken auf den fast kahlen Gras- und Geröllhängen in Richtung Norden sollen anscheinend Hirsche (geschützt) sein. Doch, ich glaube, wir haben wilde Hirsche gesehen. Bei der Alpe Trupchun nehmen wir mit bloßem Auge auf der gleichen Talseite Gämsen wahr. Die Alpenpfeifnager, manchen auch bekannt als Murmeltiere, sind zahlreich und machen laut auf sich aufmerksam.
Flora: sehr reichhaltig, u.a. Alpen-Clematis, Steinröschen, Silberwurz.
Gutes Abendessen in der Hütte Varusch, wo wir auch über die Natureindrücke diskutieren. Doch, wir glauben, wir haben sicher Hirsche gesehen. Wir schlafen in einem Nebengebäude, das vieles bietet, nur leider keine ausreichend dicken Decken. Kalte Nacht, schlechter Schlaf. Wir träumen, wir hätten Hirsche gesehen.
Freitag, 21.06.2019
Nahrhaftes, gutes Frühstück. Wir müssen ins Tal zu unserem Bus zurückkehren, da der Passübergang über die Forcla Val Sassa 2857 m zur Chamanna Cluozza, unserem nächsten Ziel, wegen zu viel Schnee im Hochtal nicht möglich ist. Auch berichten die weiteren Teilnehmenden unserer Tour, dass auch der Aufstieg zur Forcla sehr schwierig sei, da der tosende Bergbach eine Überquerung nicht zulasse.
Unser Bus – Dank an Uli Weist! – bringt uns zum Parkplatz 3 am Ofenpass. Von dort steigen wir ab in die spektakuläre Schlucht des Spölbachs. Auf der anderen Seite erwarten uns 900 Meter Aufstieg, zunächst mehrere hundert Höhenmeter durch einen Urwald (Stichwort Nationalpark), dann durch Latschengelände, Matten und sumpfige Schneefelder auf die Forcla Murter auf 2545m. Man hat einen phantastischen Ausblick auf den Gegenhang, der durch drei Täler aufgeteilt wird. Durch das mittlere Val Sassa hätten wir wandern sollen – doch wir sehen aus der Ferne eher Gletscher (eigentlich Schneemassen) als begehbare Pfade.
Der ganze Tag war schon trübe, doch nun beginnt es (leicht) zu regnen, also steigen wir zügig 700 Höhenmeter ab zur Chamanna Cluozza, die von Jürg, einem erfahrenen Bergführer, privat bewirtschaftet wird. Sie liegt spektakulär über einem Steilabhang bzw. einer Schlucht. Sie ist sehr gemütlich und liebevoll eingerichtet, u.a. mit einem Holzofen in der Gaststube und mit vielen Informationen und Erklärungen zum Park. Will man aber aufs Klo oder sich waschen, muss man bei Wind und Wetter einen Hof überqueren und je nach Bedürfnis eine von zwei Hütten über dem Abgrund aufsuchen. Von hier aus besteigt man auch den Piz Quattrevals 3154m, den höchsten Gipfel im Naturpark.
Das Nachmittagsprogramm besteht wahlweise aus Erholung oder einer weiteren Exkursion. Mit Robert und Renate wandere ich talaufwärts – also erst einmal runter zum Bach, eine Brücke überqueren und dann nach Ost-Südost, abwechselnd durch den Uferkies oder über Waldwiesen. Genau dort, wo wir umkehren wollen, beobachten wir eine Hirschkuh, die auf dem Gegenhang in einer Schotterrinne liegt und aufmerksam zu uns herüber späht. Sie erinnert uns, dass wir auch gestern Hirsche gesehen haben.
Nach leckerem Abendessen feiern wir noch Paulas Geburtstag nach.
Samstag, 22.06.2019
Nachts schon hat es geregnet und gewittert, und nur für die Morgenstunden sind die Wetteraussichten gut. Nach einem sehr frugalen Frühstück, aber viel Marschtee steigen wir also wieder nach Zernez ab. Graue Stimmung, Nebel- und Wolkenschwaden wabern unten über dem Bach. Oben wandern wir durch Wald, gegen Ende hin über Matten mit vielfältiger Blumenpracht. Als wir in Zernez angelangt sind (kurz vorher Überquerung des Spölbachs auf einer schönen Brücke), beginnt es sich einzuregnen. Also besichtigen wir das Nationalparkzentrum, das über Geologie, Fauna und Flora des Parks informiert, außerdem gerade eine kleine, aber gut gemachte Ausstellung zum Reizthema „Rückkehr des Wolfs“ zu bieten hat. Mir tun vom Wandern so die Füße weh, dass ich die ganze Ausstellung hindurch barfuß laufe bzw. humple. Auch angesichts der vielen Tiere – bis hin zu einer Dinosaurier-Nachbildung – fühle ich mich eher wie ein Neandertaler. Und da auch der eine oder die andrere ihre Beschwerden beim Laufen hat, fällt mir für unsere Truppe ein neuer Teamname ein – The Painful Eight.
Als wir anschließend beim Bäcker erstaunlich günstig vespern, gießt es teilweise wie aus Kübeln. Danach fährt uns Uli Weist zum Ofenpass hoch, genauer gesagt bis zum Hotel Il Fuorno am Parkplatz 6/ Ofenpass. Als wir einchecken (endlich warme Duschen!), reißt es auf, und in goldener Nachmittagsstimmung wandern Paula, Renate und ich unter der spektakulären Felswand mit Adlernest nach Westen, über einen weiteren Bach, dann steil ansteigend durch Wald hoch zur Alpe Grimmels (2055m), die einen überragenden Ausblick zur Passhöhe bietet und weit darüber hinaus. Wir sehen weit hinter der Passhöhe in der Ferne zwei breite, eis- und schneebedeckte Bergriesen – ob einer davon mit dem Ortler-Massiv in Verbindung steht? Vorgestern und gestern hatten wir bekanntlich sicher Hirsche gesehen, doch heute zeigen sich nur die Murmeltiere.
Abendessen im Hotel – der ganz hervorragende Hirsch(!)pfeffer mit Preiselbeeren, Rotkraut und Tagliatelle wird zu Recht mehrfach bestellt und ist für Schweizer Verhältnisse (35 SF) nicht einmal besonders teuer. Ein Lob an die Küche, auch für die anderen Gerichte.
Kurz vor dem Schlafengehen hocken wir uns noch kurz in einem der Hotelzimmer zusammen, bevor wir hervorragend unter kuscheligen Decken schlafen.
Sonntag, 23.06.19.
Opulentes Frühstücksbüffet. – Uli Weist fährt uns bis zur Passhöhe des Ofenpasses hoch. Direkt hier (2149 m Höhe) beginnt ca. nördlicher bzw. nordwestlicher Richtung der Weg hoch in Richtung Forcla Funtana da S’charl und weiter zur Alpe Astras. Wir durchstreifen erst prachtvolle Bergwiesen (Erika-Kissen!) und genießen die Blumen. Im oberen Teil wendet sich der Pfad in sehr weiter Rechtskurve nach Ost bzw. Südost. Hier, an den Nordhängen, müssen wir immer wieder Schuttmuren und Bäche überqueren, vor allem aber einige steile, sumpfige Schneefelder, in die man entweder einbricht oder über die man unangenehm abrutschen kann. Vorsicht und Stockeinsatz also! Es hat etwas zugezogen, sodass wir von greller Sonne verschont bleiben.
Der Sattel, die Forcla bei 2535m, ist sehr breit und lang, hier sind vor allem die matschigen Schneefelder das Problem – man kommt längst nicht so schnell voran, wie es das Gelände eigentlich hergeben würde. Ungefähr am höchsten Punkt pausieren wir und erkennen, dass wir hier ein kleines Schigebiet queren. Beim sanften Abstieg auf die Alpe Astras laufen wir durch riesige Kolonien von Enzianen und Küchenschellen. An der Funtana da S’charl (2393 m) stoßen wir auf den Weg, der in einer Linkskurve, also südöstlich/östlich vom Ofenpass um das Bergmassiv Mont da la Bescha herumführt und den wir auch hätten gehen können.
Beim weiteren sanften Abstieg zur Alpe Astras genießen wir das zunehmend sonnige, schöne Bergwetter, lassen uns in den Wiesen nieder und rätseln über die Namen der umliegenden Dreitausender. Wir sehen die Nordseite von Piz Starlex 3075m und den Piz Sesvenna 3204m – häufiges Ski- und Sommerziel der Sektion – und im Norden den Piz Valatscha 3021 sowie den Piz de Astra mit seinen 2980m. Hirsche sehen wir nicht, obwohl Entgegenkommende diese uns angekündigt hatten. Na ja, macht nichts, wir hatten schließlich schon am ersten Tag ganz sicher Hirsche gesehen. Dazu die Diskussion, woher die vielen harten Hügel und Höcker in der Grasnarbe stammen. Maulwürfe sind jedenfalls nicht die Ursache.
Die Alpe Astras/Tamangur/ Sesvenna (2135m) ist bewirtschaftet und von umfangreichen Pferde- und Rinderweiden umgeben. Hier hat uns die Zivilisation wieder eingeholt, gut erkennbar am Pedelec-Parkplatz direkt unterhalb der Almgebäude.
So wandern wir weiter, überqueren eine Pferdeweide, lassen den Bach links neben bzw. unter uns und steuern den großen Arvenwald an, der angeblich der größte der Alpen sein soll. Das Waldklima tut wirklich gut. Weiter talwärts, direkt nach dem Wald, überqueren wir eine verlassene Alm, rasten kurz an einem Bach und stoßen schließlich auf den Fahrweg (E-Bike-Weg). Nun ist es ein Spaziergang, ein sehr langer übrigens, durch ein grandioses Hochtal, das in der Mittagssonne Naturgenuss und fröhliche Gelassenheit ausstrahlt.
Ab 15 Uhr treffen wir nach und nach in S’charl 1800m ein, einem pittoresken Bergdörfchen mit einem historischen Ortskern mit wenigen großen ehrwürdigen Gebäuden. Das kleine Örtchen liegt am Ende einer schwierigen Zugangstrasse und kann nur im Sommer mit dem Postbus erreicht werden. Die Skitourengeher unter uns träumen von den vielen Tourenmöglichkeiten und das Abholen mit dem Pferdeschlitten aus dem Tal. Da bekommt unser Teamname „The Painful Eight“ eine weitere Bedeutung. Das Hotel Mayor hat sich zwar im Sommer auf Mountain-Biker spezialisiert, aber hier genießen wir Radlerhalbe und Pflaumenkuchen, serviert von einer sehr freundlichen jungen Tschechin.
Uli Weist hat inzwischen den DAV-Bus 80 km bis hierher gesteuert, sodass wir nur noch einzusteigen und heimzufahren brauchen. Nochmals ganz herzlichen Dank, Uli!
Die Talfahrt von S’charl ins Inntal nach Scoul ist spektakulär: ständig wird die Straße von Naturgewalten vernichtet, also ist sie eine Schotterpiste und Dauerbaustelle nach dem Motto: Wo rohe Kräfte sinnlos walten … Wir sind wirklich beeindruckt! Weniger beeindruckt sind wir von dem Mountain-Biker, der vor uns talwärts rast, und dessen unorthodoxer Fahrstil die Experten hier im Bus zu zahlreichen spöttischen Kommentaren reizt.
Die weitere Rückfahrt führt uns dann nach Scuol hinein, von dort Inn-aufwärts wieder in Richtung Zernez. Wir nutzen diesmal aber statt dem baustellenreichen Flüela-Pass für 34 SF die Autoverladung Vereina und kommen nach ca. 20 – 30 min. tunnelnächtlichem Dösen im Prättigau wieder heraus. Die weitere Heimfahrt wird dominiert von Diskussionen über die Klimaanlage im Bus sowie über Sichtbehinderungen durch die Kopfstützen … frei nach dem Motto: wer solche Probleme hat, dem muss es wirklich gut gehen.
Dass alles gut gegangen ist, liegt auch an Reinhard Strackes wie üblich sehr guter Organisation. Auch ihm abschließend ein herzliches Dankeschön und auf ein nächstes Mal.
Und, ganz sicher, wir haben Hirsche gesehen! Echte Hirsche! Wilde Hirsche!
Was, Sie glauben immer noch nicht, dass wir Hirsche gesehen haben?
Bitte, hier der Beweis: die extreme Vergrößerung meiner Fotos ergab, dass die paar braunen Flecken, die ich auf Verdacht fotografiert hatte, tatsächlich Hirsche waren.
Autoren: Martin Zürn und Reinhard Stracke 29.6.2019